Offene Briefe 2009

Vorstandschaft Aktion Solidarität

Aktion Solidarität

Tirschenreuth im Dezember 2009

Aktion Solidarität



Pater Danko Litrić SDB

Pater Danko

Dezember 2009

Ihr dankbarer
P. Danko Litrić



Dr. Uta Elisabeth Düll

Dr. Uta Elisabeth Düll

Dezember 2009

Ihre
Dr. Elisabeth Uta Düll



Irene Baumgartner

Pater Danko

2. November 2009

Liebe NEST Familie!

Grad komm ich vom Jugendgericht, wo der Fall eines unserer Kinder verhandelt wurde. Die Richterin setzte einen weiteren Termin für das „Neue Jahr“ fest. Da bin ich richtig erschrocken! Jetzt wird schon fürs „Neue Jahr“ geplant, dabei kommt es mir vor, wie wenn 2009 erst gestern angefangen hätte! Mir läuft hier die Zeit davon! Jeder Tag - und oft die halbe Nacht - sind so sehr mit Arbeit und Erlebnissen ausgefüllt! Jetzt sind Noelle und ich doch tatsächlich schon seit 6 Jahren wieder in Kenia! Die Jahre flogen nur so an uns vorbei! Dabei ließ ich mich damals von meiner Arbeitsstelle nur für drei Jahre beurlauben, denn ich war fest davon überzeugt, dass meine kenianische Freundin nach Beendigung ihres Studiums in Deutschland 2007 nach Kenia heimkehren und das NEST übernehmen würde! Nun, der Mensch denkt und Gott lenkt! Meine kenianische Freundin lebt nun in München, ist glücklich verheiratet und erwartet ihr erstes Baby! Und ich bin - ich kannte kaum glauben - seit Ende Juli eine glückliche und stolze Oma. Marlies‘ und Bernhards kleine Tochter heißt Mattea Tumaini und ist allerliebst! Alois geht es nicht so gut. Er hat jetzt seit 6 Jahren Parkinson und die Krankheit lässt sich nicht aufhalten. Trotzdem unterstützt er mich wo und wie immer er kann. Ohne seine Großherzigkeit könnte ich nicht in Kenia sein. Simon und Johannes haben beide gute Jobs, Simon bei Bosch-Siemens und Johannes in einem Altenheim. Auch dafür bin ich dankbar.
Ich kann nur hoffen, dass auch Ihr alle frohgemut seid und das Jahr gut überstanden habt! Während Kenia sich immer noch von den Folgen der Unruhen des letzten Jahres erholt, brachten die anscheinend unausrottbare Korruption, die Wirtschaftskrise und eine landesweite Dürre neues Leid zu den Armen. Das habt Ihr sicher im Fernsehen mitverfolgt, dazu muss ich nicht viel sagen. Wir sind durch unsere Arbeit täglich mit diesem Leid konfrontiert. Aber wir können durch eure Mithilfe unmittelbar etwas dagegen tun! Dafür danken wir Euch allen von Herzen! Wenn wir auch nur den besagten Tropfen auf den heißen Stein leisten können, so sind wir doch jedes Mal dankbar dafür wenn ein Kind eine neue Familie findet oder eine Mutter mit ihren Kindern mutig und mit wieder gewonnenem Selbstvertrauen einen Neuanfang wagt.
So wie Mama Kevin das tat. Sie wurde verhaftet, weil sie ohne Schürze am Straßenrand selbst gebackene Kekse verkaufte. Auch in Kenia bleibt die Zeit nicht stehen und es gibt jetzt neue „moderne“ Gesetze, zum Beispiel im Bereich des Lebensmittelvertriebs. Es ist verboten öffentlich Essen zu verkaufen, ohne Berufskleidung zu tragen. Eigentlich ist das eine sinnvolle Regel. Leider können sich die vielen Frauen, die in den Slums ihre einfachen Gerichte für ein paar Cents am Straßenrand anbieten, keine solche Berufskleidung leisten. In unserem Fall wurde also Wanjiko - Mama Kevin - verhaftet und zu einem Bußgeld von 1.000 Schillinge (10 €) verurteilt. Da sie nicht bezahlen konnte wurde sie zu 6 Wochen Haft verurteilt Kevin, 4 Jahre alt, kam derweil zu uns. Er war etwas unterernährt, aber insgesamt ein liebes, fröhliches Kind. Man spürte, dass er vertrauensvoll in die Welt blickte, also bisher: eine liebevolle Betreuung erfahren hatte. Anscheinend hatte er eben nur nicht genug zu essen gehabt. Frauen wie Wanjiko erwirtschaften einen täglichen Profit von vielleicht 50 Cent. Davon wird Wasser oder Zucker oder Maismehl gekauft, in jedem Fall reicht es grade für diesen einen Tag. Wo soll da das Geld für eine Schürze herkommen? Nun, jetzt hat sie jedenfalls eine gekriegt und obendrein erhielt sie von uns noch ein paar neue Schüsseln und anderes Kochgerät. Mit einem Schnellkurs in Sachen Behördenumgang, einfacher Buchführung und Verkaufsstrategien gerüstet, eröffnete sie ihren kleinen „Einfraubetrieb“ unter neuen Vorzeichen wieder. Kevin geht jeden Tag in den Kindergarten und seine Mutter hat gelernt im Umgang mit Behörden mit mehr Selbstbewusstsein aufzutreten.
Hier noch ein weiteres Beispiel für die Gesetze: in Kenia darf man seit letztem Jahr nicht mehr in der Öffentlichkeit rauchen. Das ist gut, denn nicht viele Länder konnten bisher so ein Gesetz gegen den heftigen Widerstand der Tabakindustrie durchsetzen. Und wie ist es mit Abfall wegwerfen oder Kaugummi ausspucken? Das ist inzwischen auch verboten, aber nur wenige halten sich an solche Gesetze, vor allem in den ärmeren Wohnsiedlungen und in den Slums kümmert sich niemand darum. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass unsere Sozialarbeiterin bei ihren regelmäßigen Gefängnisbesuchen eine Frau antrifft, die wegen öffentlichen Rauchens oder so genanntem „Depositting“, also „ablegen - deponieren“ verurteilt wurde. Meistens handelt es sich da um Ausspucken von z.B. Fruchtkernen o.ä. Die Strafe dafür ist 2.500 Schillinge (25 €). Wer das nicht zahlen kann (und das können die wenigsten), ist für zwei Wochen „drin“! Nach welchen Kriterien einer aus solchen Gründen verhaftet wird oder nicht, das ist uns ein Rätsel! Denn die ganze Stadt ist so mit Abfall, vor allem alten Plastiktüten, zugeschüttet, dass es ein Jammer ist! Wir haben auch noch nie jemanden aus der oberen Bevölkerungsschicht getroffen, der auch nur wegen eines derartigen Verstoßes verwarnt worden wäre. Wie auch immer, das Schicksal ereilte Mama Rose. Sie ließ ihre Kleine, ein Jahr alt, in der Obhut einer Nachbarin zurück, um Feuerholz zu suchen. In der Umgebung der Slums sieht man diese Frauen oft: Mit einem Trageriemen an der Stirn gehen sie gebeugt, von der schweren Last auf dem Rücken, langsam am Straßenrand entlang. Viele der Frauen sind barfuß. Es ist ein grelles Bild des Kontrasts: die großen Landrover, Mercedes und Hummer und wie sie alle heißen, rauschen an diesen Frauen vorbei. Nun, jedenfalls wurde Mama Rose verhaftet, weil sie ein Stück Holz, an dem sie gekaut hatte, auf die Straße spuckte. Natürlich konnte sie das Bußgeld nicht bezahlen und so wurde sie vom Fleck weg ins Gefängnis geschickt. Sie jammerte und schrie solange aus Sorge um die kleine Rose bis die zuständige Aufsichtsbeamtin unsere Sozialarbeiterin benachrichtigte. Die musste nun zuerst ins Gefängnis fahren, um eine Wegbeschreibung von der Mutter zu erfragen. Es ist wirklich eine Kunst im Slum eine bestimmte Hütte ausfindig zu machen. Im Normalfall dauert das den ganzen Tag und ist zudem nicht ungefährlich. Auch in diesem Fall waren die Sozialarbeiter stundenlang unterwegs bis sie die Kleine aufspürten. Mit dem weinenden Baby auf dem Arm kamen sie schließlich spät abends im Gefängnis an. Die Mutter war trotz aller Misere, überglücklich und voller Dankbarkeit und stillte die Kleine sofort! Als sie dann entlassen wurde, gab sie ihre letzten Groschen für die Busfahrt aus, um uns zu besuchen und sich zu bedanken! Wir konnten sie inzwischen mit einer kirchlichen Kleinkreditgruppe vernetzen und mit ihr zusammen einen kleinen Verkaufsstand aufbauen. Mutter und Kind geht es gut!
Übrigens, zur Information: Das Gefängnis in Nairobi ist für 300 Frauen gebaut, aber im Moment leben über 600 Häftlinge mit etwa 60 Kleinkindern dort. Unsere Krankenschwester geht jeden Donnerstag hin und kümmert sich um diese Kinder. Sie untersucht sie, wiegt sie, bringt dringend nötige Medikamente mit und tröstet, ermutigt und unterrichtet die Mütter in Kinderpflege. Indes, nicht jede Frau ist unglücklich, wenn sie verhaftet wird. Es kann schon mal vorkommen, dass wir einen Anruf vom Jugendgericht erhalten und gebeten werden, eine völlig abgemagerte Mutter mit halbverhungertem Baby zu betreuen. Die wurde, wie wir es nennen, in „Erholungshaft“ genommen. Das bedeutet, dass sie für 3 Monate wegen Kindesvernachlässigung inhaftiert wird, um sich zu erholen. Denn im Gefängnis gibt es warmes Essen. Milch fürs Baby und ein Bett mit Moskitonetz. Ein trauriges Resümee für ein Land in dem sich gleichzeitig nicht nur die Touristen am Strand oder in Wildparks vergnügen und an feinsten Buffets tafeln, sondern auch die Politiker und die vielen tausend internationalen „Experten“ ein Leben im Luxus fuhren! Sie diskutieren täglich mit gelehrten Worten über „die Armut“. Sie produzieren unendlich viele Dokumentationen und neueste Forschungsergebnisse, geben wunderschöne Hochglanzbroschüren heraus, halten hunderte wichtige Seminare vor ebenso wichtigen Gremien und Beamten, oder auch in entlegenen Dörfern, wo die Leute ganz andere Sorgen plagen, und sagen dabei immer wieder dasselbe! Internationale „Experten“ nennt man die ausländischen Fachkräfte dieser zahllosen so genannten NGOs (Nicht Regierungs-Organisation), die mit den teuersten Autos herumfahren - oft mit Aufschriften wie „Kein Kind darf mehr hungern“ oder „Mehr Rechte für Frauen“ oder auch „Kindernothilfe“ und „Welthungerhilfe“! World Vision, Plan International, Ford Foundation, Christian Aid, Action Aid, CARE, USAID, GTZ gehören auch dazu, nur um ein paar bekannte Beispiele zu nennen. Wir haben bei all diesen Hilfsorganisationen Anträge um Unterstützung eingereicht, die wurden allesamt abgelehnt. Wir sind sehr an der Basis, haben zu wenig Medienpräsenz. Manchmal laden solche NGOs Frauen oder Kinder bei uns ab, weil sie selbst keine Heime oder Notunterkünfte unterhalten für die Menschen, für die sie sich so sehr in den Medien oder auf Konferenzen einsetzen. Wir dürfen dann ihr den Unterhalt und die Behandlung etc. dieser Kinder und Frauen aufkommen, ganz zu schweigen von deren seelischer Betreuung. Das tun wir gerne, immerhin sind diese Kinder ja in einer Notlage, aber gerecht ist es nicht, dass unsere Anträge auf Unterstützung abgelehnt werden. Viele dieser NGOs und natürlich auch UNICEF bezahlen sehr hohe Gehälter, mieten teuerste Häuser für ihre Mitarbeiter an und zahlen ohne mit der Wimper zu zucken Schulgelder von jährlich 15 und 20.000 € (pro Kind!) für deren Kinder. Unter den Kenianern ist es schon lange bekannt, wie man schnell und ohne Schweiß reich wird: man ergattert einen Job bei einer internationalen NGO oder noch besser, man gründet seine eigene NGO!
Da können wir natürlich einpacken, wenn es darum geht gut ausgebildete lokale Fachkräfte anzuwerben und auch zu halten. Es ist immer ein Risiko einer Sozialarbeiterin oder Lehrerin eine (sicherlich nötige) Weiterbildung zu ermöglichen, weil sie dann bei nächster Gelegenheit kündigt oder einfach wegbleibt, um bei einer dieser NGOs anzuheuern. Kann man auch niemandem verdenken - wer will sich nicht finanziell verbessern? Aber nicht nur im Personalbereich spüren wir den Einfluss dieser „Expertenwelt“. Auch unsere Mütter im Gefängnis fragen als erstes: Was krieg ich von euch? Bargeld? Eine elektrische Nähmaschine (3-400 €), eine Friseurausstattung? „Nur“ Beratungsgespräche, Kurse in Kinderpflege, Buchhaltung oder Behördenumgang, die das NEST anbietet, sind dann nicht mehr gefragt. Warum mit Aus- oder Fortbildung Zeit verlieren, wenn doch andere Gruppen oder NGOs einem ohne Bedingung gleich 100 oder sogar 500 € einfach so zur Entlassung schenken? Nicht selten treffen wir diese Frauen dann bald wieder im Gefängnis, denn das Geld ist schnell ausgegeben. Dafür aber wurden Ansprüche geweckt, die man sich nur mit Schwindeleien oder schlimmeren Delikten erfüllen konnte. Da wir jedoch eine Verhaltensänderung zur Selbstverantwortung anstreben, gründlich, praxisnah und auf Nachhaltigkeit arbeiten wollen, müssen wir uns gegen diesen Strom der Geldverteilung stemmen.
Übrigens las ich neulich einen Artikel darüber, dass die Abwanderung aus ländlichen Gegenden inzwischen nicht mehr nur Armut bedingt (kein eigenes Land zum Bebauen, Dürre, Stammesstreitigkeiten, keine Arbeitsplätze), sondern auch Wohlfahrt bedingt .ist. Denn auf dem Land, weitab von den Errungenschaften der Zivilisation gibt es nur wenige Hilfsorganisationen bzw. sie kommen höchstens mal sporadisch „zu Besuch“. In den großen Slums von Nairobi jedoch tummeln sich unzählige NGOs und andere „Helfer“! Am meisten sind die freie Schul- und Ausbildung gefragt. Einmal im Shun angekommen, geht niemand mehr zurück aufs Land, auch wenn man merkt, dass zwar die Schule nichts kostet und man da und dort Bargeld ergattern kann, es aber keine menschenwürdige Unterkunft und kein Wasser gibt, Prostitution an der Tagesordnung ist und die Kriminalität lebensgefährlich hoch ist. Dann geht es oft nur noch ums nackte Überleben.
Aber noch mal zurück zum Thema „Verhaftet werden“. Da ist mir nämlich neulich was Interessantes passiert: Ich wollte gerade vor einem großen Einkaufszentrum aus dem Auto steigen, als eine junge Frau auf mich zutrat. Sie hatte etwa 20 Röcke aus Indien mit diesen schönen Stoffmustern überm Arm, die sie mir zum Kauf anbieten wollte. Das aber nennt sich Straßenverkauf und der ist verboten. Sie sprach ein sehr gutes Englisch und während ich mich mit ihr so über ihre Lebensumstände unterhielt, erschallte plötzlich ein scharfer Pfeifton. Sofort warf die junge Frau all ihre Röcke in mein Auto und wie aus dem Nichts erschienen noch zwei Frauen und auch deren Waren verschwanden Blitz schnell im Auto! „Die Askaris sind da!“ Flüsterte mir eine der Frauen zu, bevor sie um die Ecke verschwand. Ein Askari ist ein Wachmann oder ein Ordnungshüter der Stadtverwaltung. Ich schloss die Autotür und wartete etwa 15 Minuten. Dann tauchten alle Frauen wieder auf, redeten fröhlich auf mich ein und holten sich ihre Sachen zurück. Gefahr gebannt, alles bestens! Ich gab der netten jungen Frau meine Telefonnummer und bat sie, uns doch einmal zu besuchen. Sie hatte mir erzählt, dass sie zwei Kinder hat und Witwe ist. Ihr Mann sei bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen, aber sie hätte keinen Anwalt bezahlen können, um eine Abfindung zu erkämpfen. Sie hatte immer gute Noten in der Schule, aber nach dem Abitur hätten ihre Eltern kein Geld für ein Universitätsstudium aufbringen können. Und so hätte sie nur einfache Computerkurse und eine Ausbildung zur Sekretärin machen können. In diesem Bereich aber hatte sie keine Arbeitsstelle gefunden. Deswegen würde sie Röcke auf der Straße verkaufen und es riskieren, so etwa einmal im Monat verhaftet zu werden. In diesem Fall würde sie ihre Ware verlieren, vom bereits eingenommenen Geld müsste sie das Bußgeld bezahlen und der Rest würde ihr dann meistens auch noch „abgenommen“. Aber dann könne sie nach Hause gehen, sofern sie nicht an einem Wochenende erwischt wurde. In diesem Fall verbliebe sie bis Montag in Haft. Aber ihre Nachbarn wüssten Bescheid und kümmerten sich dann um ihre Kinder. Einmal sei sie von einem Askari vergewaltigt worden, das sei schlimm gewesen, aber so ist das Leben halt, da könnte man nichts machen. Was für ein würdeloses Dasein, dachte ich mir und nahm mir vor, ihr Arbeit als Hausmutter anzubieten. Tatsächlich kam sie ein paar Tage später zum Half-Way Haus. Ich bot ihr die Stelle an. Zuerst war sie ganz erfreut, aber als wir über die Bezahlung verhandelten, lachte sie nur! Sie war wohl - wie die meisten Kenianer - dem Irrtum verfallen, dass alle Weißen reich seien und hatte sich vom Besuch bei uns mehr versprochen! Dann erklärte sie uns, dass sie so zwischen 60.000 bis 100.000 Schillinge (600 bis 1.000 €) im Monat verdienen würde. Manchmal kämen ja so dumme Weiße, meinte sie treuherzig, und würden für einen Rock sogar 100 $ bezahlen. Die Röcke kauft sie von einem somalischen Schmuggler für 150„Schillinge (1,50 €) pro Stück. Da müsse man das Risiko einer Verhaftung mit womöglich unangenehmen Folgen eben eingehen. Nach einer Tasse Tee und einem Plausch mit den Angestellten zog sie fröhlich von dannen. „Tja, so ist das Leben halt, da kann man nichts machen.“
Vielleicht ist Euch aufgefallen, dass ich selten die Namen der Frauen benutze, sondern meisten von „Mama Soundso“ spreche. Das kommt daher, dass es hier so üblich ist, jemanden als „Mama ... “ und dann den Namen des erstgeborenen Kindes anzusprechen. Ich selber bin also „Mama Marlies“. Eine Frau definiert sich von alters her entweder über ihren Mann oder über ihre Kinder. Das ist auch heute noch vielerorts so. Kein Kind zu haben ist für eine Frau immer noch ein gesellschaftlicher Makel. Als Anmerkung dazu: die durchschnittliche Geburtsrate liegt in Kenia bei 4,9 Kindern pro Frau. Trotz Verteilung von Kondomen und Pille, trotz der vielen Kampagnen und teurer Aufklärungsprogramme der Weltgesundheitsorganisation und vieler NGOs blieb die Geburtenrate über Jahre hinweg so hoch. Die meisten „unserer“ Frauen kommen aus den ärmsten Schichten, sind allein erziehend und haben mehrere Kinder von verschiedenen Vätern. Im Laufe der letzten Jahre zeigte sich in unseren hauseigenen Statistiken jedoch, dass die Frauen, die erfolgreich ein zwar geringes, aber immerhin eigenes Einkommen erwirtschaften, keine Kinder mehr in die Welt setzen. Ob das an ihrem neu erwachten Selbstbewusstsein liegt, oder ob die finanzielle Unabhängigkeit der Grund dafür ist, das wissen wir nicht. Vielleicht konnten wir sie ganz einfach davon überzeugen, dass es so den bereits vorhandenen Kindern und ihnen selber so besser gehe. Aber wie gesagt, diese Beobachtung ist ja auch nur ein Erfahrungswert innerhalb unseres bescheidenen, kleinen Projekts.
Was mich immer sehr berührt, ist, wenn wir den Großeltern ein Kind übergeben. Müde von den Mühen und der harten Arbeit vieler Jahre nehmen sie doch voller Liebe ihr Enkelkind zu sich. In diesem Jahr sind uns besonders Baby Jane und ihre Oma ans Herz gewachsen. Ihre Mutter hatte wohl eine postnatale Depression. Sie lehnte das Baby, ihr drittes Kind von Anfang an ab und zog sich ganz in sich zurück. Da die Familie in einem kleinen wirklich ärmlichen Dorf weitab der nächsten größeren Stadt lebte, sprach sich das schnell herum. Die Nachbarn meinten, die junge Frau sei verhext und wollten sie einsperren lassen. Die Familie hatte seit dem Tod des Großvaters kein Einkommen mehr, und lebte von Gelegenheitsarbeiten. Alle waren unterernährt und abgemagert. In ihrer Not wanderte die Großmutter 60 km zu Fuß zum nächsten Kreiskrankenhaus, um sich Rat und Nahrung für das völlig unterernährte Baby zu holen. Geld für den Bus hatte sie keins. Wir waren zufällig auch da, denn wir wollten ein Baby abholen, das in eine Latrine geworfen worden war. Nachdem wir uns ihre Geschichte angehört hatten, beschlossen wir, Baby Jane für ein paar Wochen bei uns aufzunehmen, um sie aufzupäppeln. Wir bezahlten die Behandlung für die Mutter und versprachen der Oma, bald einen Hausbesuch zu machen. Dann könnten wir zusammen überlegen, wie die Familie Einkommen erwirtschaften könne. Als die Oma mir ihr Enkelkind in die Arme legte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie winkte unserm Auto lange nach, eine kleine einsame Gestalt in alten zerrissenen Kleidern. Die Kleine entwickelte sich prächtig, lachte und plapperte mit unseren Hausmüttern und hatte bald runde Bäckchen und Grübchen an den Ärmchen! Unsere Sozialarbeiter fuhren 4 Wochen später zu einem Hausbesuch in das etwa 240 km entfernte Dorf. Man kann sich die Armut, die auf dem Land herrscht, kaum vorstellen. Hier lebte eine Großfamilie in einer Hütte weitab vom nächsten größeren Ort. Es gab die Großmutter, die Tochter mit ihren 3 Kindern, den Sohn mit Frau und 4 Kindern und eine alte Tante. Sie schlafen zum Teil auf dem Boden und im einzigen Bett. Der Sohn ist nur in der Lage, einfache Arbeiten zu verrichten, die ihm die Großmutter aufgibt oder die in der Nachbarschaft anstehen. Zur Hütte gehört ein kleines Feld auf dem Mais angebaut wird. Damit es in Zukunft für die Kinder Milch gibt, kauften wir für 40 € zwei Milchziegen. Nach langen Verhandlungen einigten sich unsere Sozialarbeiterinnen und die Familie darauf, dass sie als erstes eine Latrine graben und ein kleines Lehmhaus bauen sollten. Wir würden das Wellblech dazu besorgen. Danach sollten sie aus Ästen und Baumrinde ein Verkaufsregal und eine Theke bauen. Beim nächsten Besuch würden wir im nahe gelegenen größeren Ort am Marktplatz ein kleines Zimmer für 3 Monate anmieten und die erste Ladung Waren beisteuern. Sobald sich dann der kleine Gemischtwarenladen selber tragen könne, sollte Baby Jane nach Hause kommen. Und siehe da, es klappte alles bestens. Die Familie war plötzlich voller Hoffnung und auch stolz darauf, „Ladenbesitzer“ zu sein! Die Mütter verbrachte eine Woche bei uns im Half-Way Haus, um sich ein Grundwissen über Buchhaltung zu erwerben und um ihre kleine Tochter endlich ins Herz schließen! Es war ein Freudentag, als die Großmutter kam, um Tochter und Enkeltochter abzuholen. Es wurde gesungen und getanzt und gelacht! Die Großmutter schrieb mir später einen ganz lieben lustigen Brief voller Segenswünsche, der hat einen Ehrenplatz in meiner Erinnerungsmappe!
Solche Erfolgsgeschichten sind Lichtblicke in unserem sonst so frustrierenden Kampf um die Rechte der Kinder. Und es gibt noch mehr davon: Obwohl es das vorrangige Ziel des NESTs ist, Kinder und Eltern zusammenzuführen und der Familie wirtschaftlich im bescheidenen Rahmen einen Neuanfang zu ermöglichen, gibt es immer wieder Kinder bei denen die Familie nicht bekannt ist oder aus verschiedenen Gründen ausfällt. Auch in diesem Jahr konnten 24 NEST Babys in Adoptionsfamilien vermittelt werden. Zum Abschied versammeln wir uns alle und gestalten eine kleine Feier mit Gebet und Liedern für die neue Familie. Was ist das immer für eine ganz besondere Stimmung; die Hausmütter müssen Abschied von ihrem Schützling nehmen und vergießen so manch heimliche Träne während den neuen Eltern die Freudentränen in den Augen stehen! Manche Adoptiveltern bleiben jahrelang mit uns in Kontakt, senden uns Fotos und erzählen von ihren Kindern. Das tut gut, das macht uns Mut!
Den brauch ich auch: Wir wollen ein Säuglingsheim zur Aufnahme für etwa 24 ausgesetzte und misshandelte Künder bauen! Als nach den Präsidentschaftswahlen die Gewalttätigkeiten ausbrachen, fand ich es zu riskant, die Babys in Limuru zu lassen und brachte sie in das Half-Way Haus. Dort sind sie auch heute noch, einmal waren sogar bis zu 20 an der Zahl in zwei winzigen Zimmern und jeweils zu dritt in einem Gitterbettchen untergebracht. Diese beiden Räume waren eigentlich für die leitende Sozialarbeiterin vorgesehen. Leider müssen wir viele Anfragen um Aufnahme weiterer Babys ablehnend beantworten. Wir sind völlig überbelegt, was die Arbeitsbedingungen und eine sinnvolle Versorgung der Babys sehr erschwert. Auch ist es von hygienischen und medizinischen Standpunkt aus riskant, ja fast unverantwortlich so viele Kinder auf engstem Raum zu pflegen. Es gibt zurzeit viele ausgesetzte Babys. Auch ist die Zahl der Mütter aus dem Gefängnis, die ihre Kinder zur Adoption freigeben wollen, gestiegen. Die Gründe dafür sind einerseits die Auswirkungen der Vergewaltigungen im Frühjahr 2008 und andererseits die steigende Verarmung der Bevölkerung. Kriminalität und Wirtschaftskrise führten zu extremem Rückgang der Touristenzahlen, die Arbeitslosigkeit ist hoch und es gab erhebliche Kostensteigerungen, auch für Grundnahrungsmittel. Die bereits erwähnte ungewöhnlich lange Trockenzeit, und ausfallende Ernten durch die Verwüstung der Felder und Farmen im Februar 2008 verschlimmern die Notlage noch weiter. Erst heute musste ich wieder zwei misshandelte Babys ablehnen.
Zurzeit bin ich mindestens einmal in der Woche im Jugendamt oder Finanzamt und kämpfe um die Mehrwertsteuerbefreiung (etwa 18.000 €!) für den Bau. Dazu braucht es einen langen Atem und eine gehörige Portion Demut. Wenn ich grade mal wieder am liebsten explodieren würde über die Unverschämtheiten, die ich mir anhören muss oder unsere Akte zum zehnten Mal „verschwunden“ ist, dann denk ich an die oben genannten Lichtblicke! Und an Sie, liebe Freunde! Ich weiß mit welcher Liebe Sie ihr, oftmals hart verdientes Geld mit den NEST- Kindern teilen. Ihre Gabe kommt als Geschenk in dieses Land und sollte deshalb auch ganz und gar den Kindern zu Gute kommen. Dem kleinen Henry, z.B. der laut Arzt etwa 10 Monate alt ist und nur 4 kg wiegt. Er ist gesund, eben nur so verhungert. Oder der kleinen Sarah. 6 Wochen alt, die bis zum Hals eingegraben auf einem Feld gefunden wurde. Ameisen hatten sich bereits in ihrem Gesichtchen festgebissen. Oder der 15jährige Anne, die in einem anderen Kinderheim vom Direktor missbraucht wurde. Sie wohnt jetzt bei uns im Half-Way Haus und hat nur einen Wunsch: Zur Schule möchte sie gehen! Oder unserer Cathrine: Sie macht grade Abitur und möchte gerne Medizin studieren oder OP Schwester werden. Oder unseren „Miracle Kindern“ (Sie erinnern sich - die Kinder aus dem Fall von Kinderhandel, die 2004 als Babys zu uns kamen), die jetzt stolz in die 1.  Klasse unserer kleinen Schule gehen und nie ein Elternhaus kennen lernen werden. Ich könnte diese Reihe noch endlos fortsetzen - wenn Sie ab und zu einen Blick in unsere Homepage werfen, werden Sie viele unserer Kinder kennen lernen und ihre Geschichten verfolgen können.
Ihr, liebe Freunde, habt das Leben dieser Kinder und vieler Mütter berührt, und es in neue, hoffnungsvolle Bahnen gelenkt! Das ist Weihnachten!!! Durch Eure Gabe, durch die vielen Heben Gedanken und Gebete, die Ihr uns zusendet erleben wir hier immerwährend Weihnachten! Wenn Ihr heuer unterm Christbaum feiert - so soll Euch dieser Gedanke Friede und Freude schenken!
Mit den besten Wünschen für 2010!

Eure
Irene Baumgartner